Center for the Study of Language and Society (CSLS)

Center for the Study of Language and Society

Code-Switching im Mittelalter

Dienstag, 29.11.2016, 18:15 Uhr

Prof. Hans Ulrich Schmid, Universität Leipzig

Das Forum Language and Society ist eine Reihe von Gastvorträgen zu Themen der Soziolinguistik. Doktorierende der GSH können sich die Teilnahme als Zuhörende mit 0,25 ECTS pro Vortrag anrechnen lassen.

Veranstaltende: Forum Language and Society
Redner, Rednerin: Prof. Hans Ulrich Schmid, Universität Leipzig
Datum: 29.11.2016
Uhrzeit: 18:15 - 19:45 Uhr
Ort: F -121
Unitobler
Lerchenweg 36
3012 Bern
Merkmale: Öffentlich
kostenlos

Code-Switching im Mittelalter

Prof. Dr. Hans Ulrich Schmid, Universität Leipzig

 

Das Thema lautet: Code-Switching am Anfang des Deutschen

Mit Code-Switching wird ein Phänomen der Mündlichkeit bezeichnet: Bi- oder polylinguale Sprecher wechseln – je nach Situation und Bedarf – von Sprache A nach Sprache B. So werden Kinder mit verschiedensprachigen Eltern, die zweisprachig sozialisiert werden, mit den jeweils beiderseitigen Grosseltern entweder in Sprache A oder in Sprache B reden. Sie werden, anders gesagt, von A nach B „switchen“. Es gibt eine ganze Reihe anderer möglicher und denkbarer Konstellationen, in denen Entsprechendes passiert. Ich würde in solchen Fällen von translingualem Code-Switching sprechen.

Aber auch innerhalb einer Sprache passiert – die Alltagserfahrung zeigt es – Vergleichbares: Beim Frühstück am Küchentisch zieht man ein anderes Sprachregister als beim Vorstellungsgespräch mit einem potenziellen Personalchef. Es kommen soziolinguistische, areallinguistische, psycho­linguistische sicher auch individuallinguistische Faktoren zum Tragen. Dazu sage ich intralinguales Code-Switchung. Solche Faktorenkonglomerate können mit linguistischen Methoden beschrieben und erforscht werden.

Sowohl zum translingualen als auch zum intralingualen Code-Switching in den verschiedensten Sprach­gebieten und Sprachen der Erde gibt es reichlich Forschungsliteratur.

Phänomene, die dem mündlichen Code-switching ähneln, gibt es auch in der Schriftlichkeit: Eine persönliche Notiz, die man am (eben schon erwähnten) Küchentisch hinterlässt, weil man den Bus erwischen muss, aber der oder die andere einmal wieder nicht aus den Federn gekommen ist, wird ein anderes Layout, ein anderes Vokabular und andere grammatische Strukturen aufweisen als das Bewerbungsschreiben an den (ebenfalls schon bemühten) Personalchef.

Code-Switching kann natürlich auch literarisch stilisiert werden, etwa dann, wenn literarische Figuren, sei es im Roman oder auf der Bühne, in verschiedene Situationen geraten, die Anlass zu einem variierenden („switchenden“) Sprachverhalten geben.

Nun kann man sicher sein, dass das Phänomen sowohl des translingualen als auch des intralingualen Code-Switching keine Errungenschaft der Moderne ist, sondern dass es vergleichbare Phänomene gibt, seit Menschen, die unterschiedliche Sprachen sprechen, zueinander (mehr oder weniger friedlich) in Kontakt stehen (translingual), bzw. seit es ein gesellschaftliches „Unten“ und „Oben“ und soziale Gruppen gibt. Code-Switching ist auch ein historisches Phänomen. Mit solch Code-Switching ist sicher schon in den ältesten Grossstädten der Menschheit, also im Vorderen Orient, zu rechnen.

So weit soll der Vortrag allerdings nicht zurück reichen. Er führt nur ins 9. bis 11. Jahrhundert. Thematisiert werden Code-Switching-Phänomene schon im Frühmittelalter und ihre Motiviertheit (Kenntnisse des Althochdeutschen werden dabei nicht vorausgesetzt!). Dabei ist man natürlich (bis auf ganz wenige indirekte chronistische oder hagiographische Zeugnisse) auf schriftliche Quellen angewiesen, die als Dokumente entweder eines real durchgeführten, eines rechtssprach­lichen, eines literarisch stilisierten oder eines didaktisch-funktionalen, eines fachsprachlichen oder magischen Code-Switching zu beurteilen sind. Hinzuzählen kann man auch „Anleitungen“ zum Code-switching, wie sie in den „Reiseführersätzen“ einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert erhalten sind. Wenn man den Begriff des Code-Switching weit fasst, kann man auch textgeschicht­liche Veränderungen darunter fassen, die dadurch zustande gekommen sind, dass Vorlagen aus einem fremden Dialektgebiet sprachlich angepasst wurden.

Schon in der ältesten Überlieferung des lassen sich solche Phänomene beobachten:

Real durchgeführt: Strassburger Eide – Ein „französischer“ König schwört auf (Althoch‑) Deutsch, sein „deutscher“ Verbündeter (nebenbei: sein Bruder) tut es auf (Alt‑) Französisch, damit die Truppen des jeweils anderen verstehen, was gesagt wird.

  • Rechtssprachlich: Im frühen Mittelalter wurden germanische Stammesrechte – zum Leid­wesen germanistischer Sprachhistoriker – in lateinischer Sprache aufgezeichnet. Aber immer wieder waren die Übersetzer gezwungen, volkssprachliche Rechtstermini, für die es keine lateinischen Äquivalente gab, direkt zu zitieren.
  • Didaktisch funktional: Zu nennen ist der große Bereich des lateinisch geprägten Kloster­schulunterrichts, der aber gezwungenermaßen auf die Muttersprache der Knaben zurück­greifen musste. Hier muss natürlich der Name Notkers III. von St. Gallen erwähnt werden.
  • Literarisch stilisiert: Lateinisch-deutsche Mischgedichte einer Cambridger Liederhand­schrift, von denen eines (De Heinrico) historischen Bezug hat, ein anderes (Kleriker und Nonne) nur noch vage erkennbar ist, weil es ein sittlich empörter Leser bis auf wenige Reste vom Pergament gekratzt hat.
  • Fachsprache: Vor allem botanisch-heilkundliche Texte wechseln zwischen Latein und Deutsch.
  • Magie: Zauber- und Segenssprüche zeigen Ähnlichkeiten mit den Rezepten, „switchen“ aber stellenweise sogar in eine unverständliche Geheimsprache.
  • Anleitung zum (französisch-deutschen) Code-Switching: Pariser Gespräche.
  • Literarische Vermittlung: Texte sind durch das Sprachgebiet „gewandert“ und haben dabei sprachliche Metamorphosen durchlaufen, um verständlich zu bleiben. Prominen­testes Beispiel ist das Hildebrandslied.

Die viel zitierte Lateinaffinität des Althochdeutschen hat, wenn man genauer hinsieht, viele Facetten, die durchaus Parallelen in der Gegenwart erkennen lassen.

 

Prof. Dr. Hans Ulrich Schmid

Der Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Hans Ulrich Schmid liegt im Bereich der Historischen Sprachwissenschaft. Innerhalb dieses Bereiches beschäftigt er sich mit historischer Wortforschung. Dieses Interesse hat ihm auch die Projektleitung des Althochdeutschen Wörterbuchs an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eingebracht. Weitere Forschungsfelder sind die historische Syntax, historische Dialektologie, historische Fachsprachen und – allerdings nur als halb hobbymässiger Ausleger – die Ältere Skandinavistik.